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Lieber Tomasz,


zunächst möchte ich Dir danken, dass Ihr mich vor zwei Wochen nicht nur dabei haben wolltet, sondern mir auch mit den Flugkosten geholfen habt. Es war eine so schöne Feier. Aiden sollte häufiger mal Anzug tragen. Auch soll ich Dir von Bastian danken, dass Du mit dem letzten Brief Deine alten und teils verworfenen Essays zu Feminismus und Utilitarismus bei Mills mitgeschickt hast. Er hat darüber endlich Einstieg in die Materie gefunden. Ich musste teilweise ein wenig schmunzeln. Manchmal klang er in seinen Ausführungen wie Du damals.


Außerdem würde ich mich freuen, Dich und Aiden zu meinem Geburtstag im September in meiner neuen Wohnung (Glücksburger Str. 20, 44799 Bochum) begrüßen zu können – sofern Corona es zulässt. Von Frankfurt aus – by the way: Glückwunsch zur Promotion und der ersten „richtigen“ Stelle! – sollte es ja auch wesentlich einfacher sein als aus Brighton. Sigi wird auch da sein. Wenn Du länger als einen Tag bleiben kannst, könnten wir auch mal schauen, ob wir nicht zusammen ins Tal fahren. Sigi wohnt ja immer noch auf der Hohenzollernstraße. Wir könnten einen Nachmittag/ Abend im Park verbringen.


Aber, wie ja fast immer in der Geschichte unserer Briefwechsel, haben mich nicht nur die obigen Anlässe dazu gebracht, mich endlich an einer Antwort zu versuchen. An meiner beruflichen Situation hat sich nach wie vor nichts getan. Aber ich rechne inzwischen auch nicht mehr groß damit. Dass wir nicht alle in der Forschung unterkommen würden, war mir schon bewusst, als wir damals zusammen im AStA waren. Und dennoch: es war keine verlorene Zeit! Eventuell haben sie im Ortsverein eine halbe Stelle...


Aber vor allem privat komme ich ins Zweifeln. Du hattest ja gefragt, wie es mir insgesamt ginge. Und ich weiß ja, dass Du weißt, wie es mir seit Jahren geht. Entsprechend siehst Du es mir hoffentlich nicht nach, Dir in gewisser Länge auszulegen, wie es aktuell um mich steht. Ich fühle mich falsch, fremd und verloren. Mir ist jüngst bewusst geworden, wie sehr meine Vergangenheit mich von allem abhält, was mir lieb und teuer ist.


Immer wieder haben mich in meinem Leben Dinge fasziniert. An mir ist ein Romancier (zumindest für Groschenromane), ein drittklassiger Linguist, ein schlechter Drehbuchautor (der damit über die Runde käme), ein mittelmäßiger Historiker, ein Kommunalpolitiker, ein sozialpolitischer Aktivist, ein Laienschauspieler und sicher noch vieles mehr vorbei gegangen. Und auch in den Dingen, die ich durchgezogen habe, bin ich doch stets hinter meinem Potential zurückgeblieben. Fast überall gab es immer diesen einen Punkt, an dem ich mich gefragt habe: Was denken sie, wenn sie mich sehen? Wie sehen sie mich? Und dann bin ich zurückgeschreckt.


Natürlich bin ich mir bewusst, dass das alles Unfug ist. Nur weil ich dick bin, bin ich nicht faul, ungepflegt, charakterschwach, unsportlich, ambitionslos, … und was sie sonst noch alles vermuten (Studien belegen das! – leider). Aber genau diese Eigenschaften glaube ich nach wie vor zu haben. Sie verfolgen mich wie ein Schatten. Ich kann sie nicht abschütteln, nicht nachdem ich sie seit meinem 10. Lebensjahr erst vorsichtig und zu besonderen Anlässen eingeflößt, dann täglich serviert wurden. Es gab diese Eigenschaften in verschiedenen Geschmacksrichtungen, mal als Vorwurf, mal als Sorgen, da dann wiederum in Abstufung um meine berufliche Zukunft, Gesundheit oder mein Liebesleben, mal als Beleidigung, mal als Versuch, mich zu diskreditieren oder zurückzuhalten...


Meine Reaktion war stets ein Verdrängen. Ich habe Zuflucht gesucht in Kämpfen, in denen ich mich sicherer fühle. Ich habe statt meiner eigenen Schlachten die anderer geschlagen. Beispielsweise in Bezug auf meine Konversion zum Islam frage ich mich, wie sehr es wirklich Glaube war und nicht auch die Faszination, anders zu sein und dieses Anderssein als mein Recht verteidigen zu können. Anders als ich es in Bezug auf mein Gewicht kann. Ich habe damals an einige Glaubensinhalte von ganzem Herzen geglaubt, ich wollte die Regeln einhalten, sie gaben meinem Alltag Struktur… Aber – mit einem Weinglas in der Hand – frage ich mich in diesem Moment, wie sehr es eine religiöse und nicht vor allem eine politische Entscheidung war.


Ich habe mich natürlich schon zuvor gegen antimuslimischen Rassismus eingesetzt. Aber es macht einfach einen Unterschied, selbst betroffen zu sein und sich wehren zu können – sich wehren zu müssen! – oder sich für andere einzusetzen. Entscheidend war und ist sicher auch, dass ich mich nach wie vor nur mit großem Unbehagen gegen Gewichtsdiskriminierung erfolgreich wehren kann und mir – außer Sigi, Mila, Dir, … – auch selten jemand beistand...


Als Noah mich vor kurzem besucht hat, trug ich meine Takke, weil ich das Mittagsgebet bei ihr beten würde (Ja, ab und an schaffe ich es, ein guter Muslim zu sein). Aus dem nichts hat mich im Vorbeigehen ein Typ – Mitte 40, tättowiert, Glatze – angespuckt. Noah war natürlich sofort hinter ihm her – Du kennst sie inzwischen ja auch. So sehr mich der Hass gestört hat, so sehr es mich in dem Moment gestört hat, so schockiert und angeekelt ich war, hat es mich bei weitem nicht so traumatisiert wie andere Erfahrungen es haben. Ich werde diese Erfahrung verarbeiten und positivere werden sie irgendwann verdrängen. Dagegen hat sich in mein Gedächtnis eingebracht, als jemand, den ich vor Ewigkeiten meinen besten Freund wähnte, in der Umkleidekabine meinte, dass er als Sportlehrer Menschen wie mir grundsätzlich eine 5 geben würde. Dieser Einnerung werde ich mein Leben lang nicht vergessen.


Aufgrund solcher traumatischen Erfahrungen – verursacht von Freund*innen wie Feind*innen und allem dazwischen – habe ich mir vieles nicht mehr zugetraut. Es waren solche Kommentare, verächtliche Blicke, Getuschel und Gelächter, die mich dazu gebracht haben, Aikido aufzugeben. Oder auch die Schach-AG. Beim Uni-Theater hab ich nicht einmal vorgesprochen. Diese Diskriminierung hat mich immer wieder ein bisschen Selbstbewusstsein gekostet, bis kaum etwas mehr da war.


Für die Kämpfe anderer hatte ich noch etwas Kraft. Grundsätzlich habe ich immer, wenn ich helfen konnte, alles gegeben. Von der Gestaltung von Plakaten und Online-Graphiken bis zur Ausformulierung von Anträgen, war ich dabei. Sogar zum – und das fiel mir am schwersten – Flyer verteilen, hab ich mich durchringen können. Du wirst Dich an genügend Beispiele aus meiner Campusgrün-„Karriere“ erinnern. Aber für diejenigen Dinge, die Überwindung gekostet hätten wie Sport, Dating, Theater, Reenactment, …, hatte ich nicht das Selbstbewusstsein. Und auch wenn noch für einiges davon Gelegenheit besteht, fühlt es sich an, als wäre es für vieles davon zu spät. Ich bereue so vieles, verstehst du?


Aber ich will Dich nicht länger mit meinen Problemen belästigen, lieber Freund. Ich hoffe, Dir geht es gut und der Umzug ist in vollen Gängen. Wie geht es Aiden? Ist Dir der Abschied von den Kolleg*innen in Brighton schwergefallen? Wenn es Dir mit all dem zu stressig ist, können wir gerne ausnahmsweise von unserer strikten write-don't-talk-Policy abweichen und telephonieren. Ich freue mich, von Dir zu hören oder lesen.


Es verbleibt mit liebstem Gruß

Maxim

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